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Ethnische Ordnung

konkret 03/97, S. 24

Im deutsch dominierten Großwirtschaftsraum „Europa“ stören nationalstaatliche Grenzen. Ihre Zerschlagung ist das Ziel der deutschen „Ethno“-Politik, die nun mit dem „Europäischen Zentrum für Minderheitenfragen“ (EZM) zur Offensive übergeht (Die Redaktion).

Fünf lange Jahre benötigten Auswärtiges Amt (AA) und Bonner Innenministerium (BMI), um ihre Pläne abzustimmen. Nun ist es soweit: Seit Dezember 96 arbeiten deutsche Spezialisten, damit „eine offensive Volksgruppen- und Minderheitenpolitik endlich den Platz erhält, der ihr bereits seit geraumer Zeit zusteht“ - so die Landtagspräsidentin Lianne Paulina-Mürl auf einem Minderheitenforum des Landtags von Schleswig Holstein am 7. Juni 1991. Für ihre Minoritäten-Vorhaben haben sie in Flensburg eine europäische Kulisse errichtet, Fördergelder der EU kassiert und am neuen „Zentrum für Minderheitenfragen“ auch die ahnungslosen Dänen beteiligt.

Daß die Offensive nicht den sozial Deklassierten in Deutschland gilt, etwa den Millionen Migranten aus der Türkei, Arbeitern aus Vietnam oder Osteuropa, versteht sich von selbst. Es geht um Minderheiten und sogenannte Volksgruppen außerhalb der Bundesrepublik. Ihnen will die von AA und Innenministerium finanzierte Minderheitenzentrale zu umfassenden Rechten verhelfen. Sie wurde „dringend benötigt“ (Originalton BMI). Denn überall, so scheint es, verlangen Minoritäten Zuspruch und richten ihre Blicke auf das vereinigte Deutschland. Wie der Direktor des EZM, Stefan Troebst, anläßlich der Institutseröffnung am 4. Dezember letzten Jahres in Flensburg erklärte, „ist der geographische Arbeitsbereich der neuen Institution Europa und in manchen Fällen angrenzende Gebiete wie ... das Schwarzmeergebiet oder der Kaukasus“.

Wer wegen solcher Zielvorgaben vermutet, die deutsche Außenpolitik sei auf der Suche nach Minderheiten, die ihr den Weg in ressourcenstarke Interventionsgebiete öffnen, denkt zu kurz. „Besondere Aufmerksamkeit wird“ zwar „Osteuropa gewidmet werden“, konzediert der Minderheitenexperte Troebst. „Doch wenn wir uns an die diesjährigen Schlagzeilen zu Nordirland, dem Raskenland, Korsika und Zypern erinnern, wird klar, daß nicht nur in der Region hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang schwere ethnische Konflikte schwelen. Wenn es um die Rechte von Minderheiten geht, hinken auch einige westliche Länder hinterher. “

Warum es sich bei der Minderheitenfrage um ein lokal nicht eingrenzbares Problem handelt und deswegen kontinentale, sowohl nach Osten wie nach Westen zielende Einsätze der deutschen Außenpolitik gefragt sind, erklärt der Bonner Staatssekretär Prof. Dr. Kurt Schelter mit grundsätzlichen Erkenntnissen. Ohne daß Schelter damit auf Widerspruch stieß, führte er in Gegenwart zahlreicher SPD-Politiker bei der EZM-Eröffnung aus: „Die Bevölkerung der meisten Staaten Europas ist ethnisch nicht homogen ... In vielen Ländern Europas gibt es noch ethnische Spannungen ... Hinzu kommen Auseinandersetzungen, die entstehen, weil sich Menschen in ihrer besonderen ethnischen Identität in ihrem Staat nicht genügend geachtet und beachtet fühlen ... “

Mit solchen Beobachtungen, denen auch die SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis applaudierte, bringt Schelter bekannte (im Ausland auch berüchtigte) Ordnungsprinzipien in Erinnerung: nicht Nationen rechtsgleicher Bürger, sondern „ethnisch“ separierte „Volksgruppen“ seien die Bausteine Europas. Als die Auffassungen des heutigen Staatssekretärs noch keiner „ethnischen“ Umschreibungen bedurften, hatte es geheißen, Nationen mangelnder „Homogenität“ müßten aufgelöst und ihre Siedlungsgebiete großdeutschem Schutz unterstellt werden, damit etwa Frankreich in viele Parzellen zerfalle: in „Volksgruppengebiete“ der „Burgunder“, „Lothringer“ und „Bretonen“. Durch ganz Europa jagten damals „Volksgruppen“-Kommandos auf der Suche nach „Volksmischgebieten“, in denen sie die Minderheiten erst aufwiegelten, dann ihnen das Bedürfnis nach „Autonomie“ eingaben und bei Bedarf ihre Staaten auseinandersprengten. Auf diese Weise zerfiel die Tschechoslowakei. Auch Jugoslawien wurde „ethnisch“ zerlegt. Die Vorarbeiten für einen „Nationalstaat Burgund“ unterstanden damals Hitlers Staatssekretär v. Weizsäcker.

Aber welche „ethnischen Spannungen“ hat die deutsche Außenpolitik 60 Jahre später im Auge, da ihre rassistischen Ausformungen angeblich doch längst der Vergangenheit angehören?

Neue Grenzen für Frankreich

Um ein aktuelles Beispiel für „ethnische Identität“ und „ethnische“ Homogenitätsprobleme ist EZM-Direktor Troebst nicht verlegen. Wenn das BMI in Gestalt von Staatssekretär Schelter die mangelnde Beachtung der Minderheiten rügt, fallen Troebst etliche Fälle ein. Beispielsweise denkt er an die „ethnische Identität“ der Bewohner Südfrankreichs. Dort hinkt der französische Zentralstaat seinen Minderheiten hinterher, so daß Handlungsbedarf für die europaweiten Verpflichtungen der deutschen Minoritäten-Vorsorge besteht. Troebst kann sich vorstellen, daß von ihm entdeckte „Minderheiten“ in Südfrankreich einen eigenen Nationalstaat gründen: „Ob ... beispielsweise ... die Okzitanier in Südfrankreich ein nationales Programm vorschlagen, eine nationale Bewegung organisieren und schließlich einen eigenen Nationalstaat fordern, ja um ihn kämpfen, oder nicht, das sind schwierige, jedoch in manchen Fällen dringende Fragen.“

Mit „Okzitanien“ tauchen in der deutschen Außenpolitik Optionen auf, die man nicht für möglich gehalten hätte, die aber im staatlich finanzierten EZM systematisch aufbereitet werden. So fragt sich neben Troebst auch das EZM-Vorstandsmitglied Rainer Hofmann, was es mit der nationalen Kohärenz der Franzosen auf sich habe. Hofmann, „Minderheitenspezialist“ im Vertriebenen-Milieu und Co-Autor eines Rechtsextremisten, hat festgestellt, daß die französische Verfassung „die Existenz nationaler Minderheiten auf französischem Staatsgebiet (leugnet)“ (Minderheitenschutz in Europa, Berlin 1995). Damit stehe die französische Verfassung „in deutlichem Gegensatz zu den tatsächlichen Verhältnissen“, die von zahllosen „Volksgruppen“bestimmt werden. Man erkenne sie an ihren „Minderheitensprachen“ - neben „1.300.000 Personen im Elsaß und in Lothringen“ (1) sind es „ 10 Millionen Personen“ im okzitanischen Südfrankreich, die unter Hofmanns Definition fallen und die er deswegen nicht Franzosen, sondern „Personen“ nennt. Da weitere „600.000 Personen Bretonisch, 100.000 Personen Katalanisch, jeweils 80.000 Personen Baskisch und Flämisch und 70.000 Personen Korsisch“ sprechen, schrumpft Frankreich auf die Ile de la Cite und das Territorium der Commune.

Freilich blieben solche Überlegungen bloße Fantasmen, gäbe es nicht Möglichkeiten, ihnen Rechtsform zu verleihen. Deswegen schlägt Hofmann vor: „Minderheiten, die als Volk und damit als Träger des Selbstbestimmungsrechtes anzusehen sind, ... (kann) ein Recht auf Sezession zuwachsen ... “ (Die Minderheitendeklaration der UN-Generalversammlung, Berlin 1994). Zwar sind Minderheiten niemals „Völker“, und die Vereinten Nationen verbieten Hofmanns „Recht auf Sezession“, das einst von Staatssekretär v. Weizsäcker bei der Unterwerfung Europas erprobt wurde. Doch die angemaßte „Selbstbestimmung“ der Minderheiten verhilft erneut zu praktischen Lösungen. In den Worten des Vorstandsmitglieds der staatlichen deutschen Minderheitenzentrale: „Wählte man den Weg der erzwungenen Assimilation von Minderheiten, wäre es wohl politisch unausweichlich und auch völkerrechtlich zulässig (!), daß die hiervon betroffenen Völker (!) versuchten, ihre eigenständige Identität (!) und damit ihr Überleben durch eine - im Extremfall auch gewaltsame - Ausübung des Selbstbestimmungsrechts mit dem Ziel der Errichtung eigener Staaten oder der gewaltsamen Änderung von Grenzen zu erreichen“ (Minderheiten-Schutz).

Die hier postulierte Gewalttheorie über völkische Minderheiten und ihr biologisches Überleben ergänzt Direktor Troebst um das noch fehlende Recht des Stärkeren: „... keine Minderheit sollte einer repressiven zentralistischen Regierung ausgeliefert sein. In dieser Hinsicht müssen sogar souveräne Staaten das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft hinnehmen. In Fällen wie im Kosovo (!) kann die Eskalation der Spannungen zwischen den Volksgruppen nur auf diese Weise verhindert werden. “

Man versteht nun besser, warum Troebst von der Griechischen Botschaft in Bonn beschuldigt wird, mit seiner Minderheitenarbeit „die Voraussetzungen für spätere Destabilisierungsversuche zu schaffen“, wie Andreas Papadatos, Pressesprecher der Griechischen Botschaft, am 9. September 96 in der „jungen Welt“ warnte. Man versteht auch besser, welche Operationen im „Europäischen Zentrum für Minderheitenfragen“ vorbereitet werden, um den kontinentalen „Volksgruppen“ zu ihrem Recht zu verhelfen; beileibe nicht nur den Kosovo-Albanern und „Okzitaniern“. Nach einer offiziellen Zählung der von Rechtsextremisten und Antisemiten geprägten „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEV), die Mitglied des EZM-Kuratoriums ist, gehören 101.412.000 Menschen zum Minderheitenpotential. Sie werden 282 „Volksgruppen“ in 36 europäischen Staaten zugerechnet. Diese Zahlen verdeutlichen, daß die deutsche Außenpolitik nicht nur gründlich ist, sondern auch aufs Ganze gehen will. Was in Jugoslawien erfolgreich begann - die „ethnische“ Parzellierung des Kontinents in einem deutsch dominierten Großwirtschaftsraum marginalisierter Regionen - soll mit den Kosovo-Albanern, vielleicht auch mit den „Okzitaniern“ fortgesetzt werden.

Volksromantiker & „Ethno“-Rassisten

Neben den Bundesbehörden hilft dabei das Land Schleswig-Holstein. Es ist die Kieler Regierung, die den Sezessionstheoretiker Rainer Hofmann aus dem rechtsextremen Vertriebenen-Milieu nach Flensburg berufen hat, wo er neben Marianne Tidick (SPD) über die gewaltsame Änderung von Grenzen nachdenkt. Der parteiübergreifenden Gemeinsamkeit sind ebenso Bündnis 90/Die Grünen angeschlossen. Als Koalitionspartner in der Landesregierung verantworten sie außer Hofmanns Berufung die Co-Finanzierung des EZM aus Haushaltsmitteln. Die grüne Bundestagsabgeordnete Angelika Beer, in Schleswig-Holstein zu Hause und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, bot dem EZM-Vorstand im Februar an, „Kontakte nach Straßburg zu vermitteln“. Direktor Troebst ist von den Grünen außerdem eingeladen worden, „am 11. März in Bonn über die Arbeitsschwerpunkte der neuen Einrichtung zu berichten“ („Der Nordschleswiger“, 6.2.97).

Daß es bei dieser Gelegenheit zu einem Zusammentreffen mit Edith Müller kommt, ist nicht unwahrscheinlich. Frau Müller, Europa-Abgeordnete der Grünen, war mit dem EZM bereits vor dessen formeller Eröffnung im Gespräch. Nach den Plänen des Bundesinnenministeriums und des Auswärtigen Amts sollen Parlamentarier wie Edith Müller eingebunden werden, um die aggressive „Volksgruppen“-Politik an der ehemals linken Flanke zu sichern. Auf diese Weise fließen ursprünglich unterschiedliche, ja konträre Potentiale zusammen und werden in der Außenpolitik des vergrößerten Deutschland legiert. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt ist die Theorie vom „Selbstbestimmungsrecht“. Sie eignet sich sowohl für befreiungstheoretische Volksromantik als auch für rassistische „Ethno“-Politik.

Reicht das Selbstbestimmungsrecht in Erinnerung an Frantz Fanon den einen als Auftrag, die „Verdammten dieser Erde“ zum Aufstand zu rufen, so meinen die anderen Friedrich Ratzel oder Alfred Rosenberg, wenn sie von „Selbstbestimmung“ reden - für Ratzel und den NS-Rassentheoretiker Rosenberg bestanden Völker aus „Ethnien“, deren Selbstbestimmung der rassischen Reinigung homogener „Volkskörper“ diente. Je sauberer gereinigt wurde, desto weniger blieb übrig. Um die homogenen Blutsdeutschen in der Mitte Europas sollten regionale „Volksgruppen“ kreisen, atomisierte Reste früherer Nachbarnationen im deutschen Großwirtschaftsraum.

Die Fraktion der „Ethno“-Politiker alter Schule hatte bereits in den 80er Jahren erkannt, daß das „Recht auf Selbstbestimmung“ neue Unterstützergruppen erschließen und ehemals Linke nach rechts führen konnte. Auf diesem Weg war die „Ethno“-Fraktion durchaus bereit, dem Verbalradikalismus ihrer einstigen Gegner zu entsprechen, der romantischen „Volks“-Verehrer und naiven Antiimperialisten. Die hatten den „Sieg im Volkskrieg“ erhofft und „Dem Volke dienen“ skandiert. Gemeinsam mit den „Ethno“-Aktivisten zogen sie nun gegen das „Europa der Konzerne“ zu Felde, das ihre Hoffnung auf ein „Europa der Regionen“ und authentischen „Völker“ mit Industriemüll umgab. Radikale Kritiker der kapitalistischen Verhältnisse schienen am Werk; an die Stelle ihrer Forderung nach der Selbstbestimmung Vietnams trat die Forderung nach der Selbstbestimmung Europas, seiner „Volksgruppen“ und Kulturen. Es fiel nicht weiter auf, daß auch Jörg Haider und Umberto Bossi die „Volksgruppen“ pflegten und wortgleich verlangten, aus den Regionen Europas müßten Bollwerke werden, um Europas Konzernen Paroli zu bieten.

Spätestens bei der Forderung nach einem „Europa der Regionen“ hätte deutlich werden können, daß der sozial-ökologische Protest lediglich als Einfallstor diente, hinter dem sich kleinflächige Ordnungen ethnischer Prägung für diverse „Volksgruppen“ darboten. Baskische Tänze, korsische Gebräuche oder friesische Sprachpflege, die nun auch bei Sozialisten und anderen Vertretern eines revolutionären Sozialethos in Mode kamen, transformierten die Forderung nach ökonomischen Selbstverfügungsrecht in die Forderung nach Selbstbestimmung überkommener Kulturen („Ethnien“, „Volksgruppen“, „nationale Minderheiten“).

Statt in alternative Gesellschaftsentwürfe ließen sich die „Volksgruppen“ der „Regionen“ in das Konzept eines europäischen Großwirtschaftsraums einfügen, ja waren problemlos geeignet, das soziale Protestpotential um Herkunftstheorien zu zentrieren. Die tatsächliche Vergesellschaftlichung der Individuen gerät so zu einem folkloristischen Gemeinschaftsunternehmen mit kollektiven Strukturen und regionalem Wertschöpfungsauftrag. „Wir wollen nicht das Europa grauer Einförmigkeit, sondern eine Vielzahl nationaler und regionaler Besonderheiten“ (Helmut Kohl). Gemeint ist die Diversifizierung des nationalstaatlichen Angebots in Territorialparzellen, über die sich eine vereinheitlichende Herrschaft des Stärksten erhebt. Das „Europa der Regionen“ und Minderheiten steht nicht in Widerspruch zum „Europa der Konzerne“. Beide sind identisch. Weil sie diesen Zusammenhang bis heute nicht begriffen haben, werden die ehemals linken Volksromantiker zu Teilhabern einer parteiumspannenden Koalition, die über Deutschlands neue Ethno-Zentrale hinausweist.

Der Erfolg steht noch aus

Neben einer verdrehten Auffassung über das Selbstbestimmungsrecht der Völker führt die Beteiligten der Anspruch zusammen, man müßte den Schwachen und Armen, den Minoritäten und Diskriminierten weltweit Hilfe leisten - den Iren, Palästinensern, Albanern, Tibetern, Kurden oder Uiguren. Die deutsche Sorge um Minderheiten, EZM-Direktor Troebst erwähnte es schon, meint außer Europa auch „angrenzende Gebiete“.

Handelt es sich um einen moralischen Impuls, so verliert er seine Unschuld, sobald er die Ebene der Politik erreicht. Ihr Feld sind Interessen, deren Durchsetzung Macht erfordert. Wird das Mittel der Macht für moralische Zwecke eingesetzt, beginnen Täuschung und Selbsttäuschung, denn auch Moral spricht von Interessen - nur vielfach verhüllt. Moralisches Engagement für Minderheiten mit den Mitteln der Politik ist ambivalent, meist zwielichtig, und trifft auf das scheinbare Gegenteil: politisches Engagement für Minderheiten mit den Mitteln der Moral. Beide Spielarten lassen Mittel und Zwecke zusammenfließen, wenn auch von unterschiedlichen Seiten. Im Ergebnis geht es um Machtfragen, die mit dem Etikett des Altruismus überdeckt werden.

Auf diese Weise wird die Mehrzahl der in die Ethnopolitik Verwickelten von dem subjektiven Glauben bestimmt, sie leiste Hilfe für die „Völker“ Europas, wobei sich dieser Ansatz sowohl dafür eignet, wie in der NS-Zeit Verbrechen zu begehen, als auch zu behaupten, die vergangenen Verbrechen verpflichteten uns, erneut zu helfen, also im Irrtumsfalle neue Verbrechen zu begehen. Mit den Worten von Peter Handke: „Wenn man einmal Verbrecher ist, kann man eigentlich nur überleben, indem man ein noch größerer Verbrecher wird.“

Die Wiederkehr einer gemeinsamen „Volksgruppen“-Politik nicht auf der Straße oder nur in Privatzirkeln, sondern von Staats wegen stellt in Deutschland die eigentliche Gefahr jenes Archaismus dar, der sich auf die „Ethnien“ und die „Homogenität“ beruft. „Die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus lehrt, daß solche Homogenitäts- und Reinheitsvorstellungen eine mächtige Anziehungskraft für die Mehrheit der Bevölkerung haben können und auch heute noch nicht überwunden sind“ (Werner Bohleber: Die Nation als imaginäre Gemeinschaft, Frankfurt/M. 1993). Sie stellen „Katalysatoren für die Radikalisierung der politischen Affekte“ dar, die von den staatlichen Vorfeldapparaten nach Art des EZM auf immer weitere Gesellschaftsbereiche übertragen und gemeinschaftsfähig gemacht werden. Damit kommt es zu einem inneren, völlig lautlos funktionierenden Austausch zwischen den ministeriellen Stäben, deren Hintergrundarbeit keinen Verdacht erregt, und dem marodierenden „Volkstum“, das anfallsweise durch Deutschlands Straßen zieht oder in Polens Fußballstadion „Schindler-Juden, wir grüßen euch“ johlt.

Über diesen wiederkehrenden Zusammenhang haben sich wohlmeinende Beobachter stets aufs Neue getäuscht. Wie die westlichen Außenpolitiker der 30er Jahre sind sie in die Falle ihrer eigenen Zweifel gelaufen. Konnte die Ethnisierung des Sozialen und der Politik, das Zerbrechen Europas in unzählige „Volksgruppen“-Teile, Absicht einer zivilisierten Nation sein? Was hatte der deutsche Plan einer Regionalisierung des Kontinents zu bedeuten, diese quasi naturhaft auftretende Forderung nach Vereinheitlichung der geographischen „Räume“? Würden die mit dem Selbstbestimmungsrecht aufgestachelten Minderheiten ihr homogenes „Überleben“ wirklich bis zum letzten treiben, zum „Ziel der Errichtung eigener Staaten“ und zur „gewaltsamen Änderung von Grenzen“? War es ernst gemeint, daß über dem Chaos der europäischen „Volksgruppen“-Kämpfe und sippenverhafteten Ethno-Strategien die Deutschen thronen wollten, um in einem „Europa der Regionen“ räubernd und plündernd zu Herren zu werden?

Es war ernst gemeint, und der Erfolg steht noch aus.